Überlegungen für eine linke Bildungspolitik in Niedersachsen
Redebeitrag von Maren Kaminski (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hannover) auf der Bildungskonferenz der Partei DIE LINKE Niedersachen am 26. März 2022 in Hannover.
Bei der Vorbereitung des heutigen Tages schossen mir immer wieder Erinnerungen durch den Kopf: Herr Meyer. Er war mein Mathelehrer in der Orientierungsstufe. Beim Elternsprechtag sagt meine Mutter zu ihm, ihre Tochter möchte unbedingt aufs Gymnasium gehen. Seine Reaktion: Da gehört sie überhaupt nicht hin! Verzweiflung. Er hat Recht. In Mathe nur eine miese 3 im B-Kurs. Mit Hängen und Würgen klappt es doch. Im familiären Umfeld – Handwerker, Arbeiter, Angestellte, alle ohne Abitur – kommt immer wieder mal die Frage: Was willst du da überhaupt? Schulterzucken. Was soll eine 13-Jährige darauf antworten?
Heute wollen wir über den Sinn von Bildung und die notwendigen Wege dahin diskutieren. So ein Vorhaben gelingt oft am besten, wenn wir uns erst einmal den Unsinn in unserem Bildungssystem vor Augen führen. Dabei muss ich wieder an meinen Mathelehrer denken. Wer gab ihm das Recht so über eine Schülerin zu urteilen? Warum war meiner Familie dieser Weg so suspekt? Die Antworten darauf kennen wir alle. Ganz sicher finden sich einige hier im Raum an ihre eigene „Bildungsbiografie“ erinnert. Verkürzt, aber veranschaulicht gesagt: dieses Bildungssystem sortiert aus, es verengt und erschwert Lebenswege. Es macht Menschen klein statt groß. Das ist vielleicht eine sehr individuelle Sicht auf Lebenswege. Wenn wir hier stehenblieben, fehlte nur der Satz: „Du bist deines eigenen Glückes Schmied!“ Mit dieser Denkweise könnten wir uns in der CDU oder noch schlimmer: in der FDP wiederfinden.
Unser Blick ist vielschichtig und mehrdimensional. Das macht es im öffentlichen Diskurs manchmal nicht einfach durchzudringen. Wenn über uns geschrieben wird, wir wollen eine „Schule für alle“ umsetzen – also in Niedersachsen ausnahmslos die Integrierte Gesamtschule, kann das Leute abschrecken. Wir stehen in der Ecke als diejenigen, die Gleichmacherei betreiben wollen. Das ist ja auch nicht falsch! Weil Schule exkludiert, wollen wir das Gegenteil erreichen: Kinder armer Eltern werden oft arm bleiben. Das sind in Niedersachsen über 20% der Einwohner:innen. Das ist ein ungeheurer Skandal, der uns keine Ruhe geben darf! Diese Kluft, die wir individuell nicht hinnehmen und gesellschaftlich für Sprengstoff halten, wollen wir schließen. Wenn das Gleichmacherei bedeutet, dann bin ich dafür!
Wir schauen mit einem anderen Blick darauf. Gleichmacherei wird in diesem gegliederten Schulsystem betrieben. „Du gehörst hierhin, du gehörst dorthin“ reproduziert einen gesellschaftlichen Status. Wir haben den viel schwierigeren Weg vor Augen. Wir wollen Wege eröffnen und einen zugewiesenen sozialen Status aufbrechen. Dabei haben wir ganz besonders diejenigen im Blick, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Wer landeseinheitliche Abschlussarbeiten propagiert, wie das Zentralabitur und wer Schmalspurabschlüsse wie Bachelor und Master an den Hochschulen verantwortet muss uns nicht mit dem Vorwurf der Gleichmacherei kommen!
Das Tragische in der Geschichte der Bildungspolitik ist, dass wir hier schon einmal viel weiter waren. Die ersten Gesamtschulen in Niedersachsen feierten im vergangenen Herbst ihr 50-jähriges Bestehen. Hinter dieser Schulform stand ein umfassendes Verständnis von Pädagogik und Demokratie, das von Überzeugungstäter:innen getragen wurde. Dazu lohnt es sich eine Rede von Wolfgang Kuschel zu lesen. Er war Schulleiter der IGS Langenhagen und hat im Rahmen eines Gesamtschultages eine Rede zur Zukunft der Integrierten Gesamtschulen gehalten. Daraus möchte ich zitieren:
„Gute Gesamtschule ist nicht zuletzt, sondern in allererster Linie eine Schule der Menschlichkeit, eine Schule, in der Schülerinnen und Schüler unbedingt und vorbehaltlos angenommen werden, wie sie sind. Wenn Schule erfolgreich Wertvorstellungen einer humanen, demokratischen und umweltbewussten Gesellschaft vermitteln will, dann gelingt das nur über menschliche Akzeptanz. IGSen sind Schulen, in denen Pädagogik als Dienstleistung am Menschen verstanden wird, Schulen, die sich verlässlich zugewandt und professionell „kümmern“. Nicht umsonst hält auch Hattie die Lehrer-Schüler-Beziehung für das A und O gelingenden Unterrichts. An Gesamtschulen unterrichten wir Menschen, nicht Fächer. Gute Gesamtschulen sind Schulen, in denen die Lehrer von ihrem humanen Auftrag zutiefst überzeugt sind; wer abschätzig über Schüler redet oder denkt, hat an einer IGS nichts zu suchen!“ Dieser Absatz daraus bringt unsere Wertvorstellung genau auf den Punkt.
Außerdem lohnt dazu auch die aktuelle Ausgabe der Zeitung der GEW Hannover. Darin erinnert sich ein Lehrer „der ersten Stunde“ an die Anfänge der IGS Garbsen. Daraus ein kurzer Satz: „Die Ziele der Chancengleichheit, individueller Förderung und der Vermeidung einer zu frühen Schullaufbahnentscheidung waren grundlegend für die Errichtung von Integrierten Gesamtschulen.“ In der Rückschau beurteilen Kolleg:innen diese Zeit als einen Aufbruch, der sie beflügelt hat. Sie konnten Einfluss nehmen und Dinge verändern.
„Alle mitnehmen, keineN zurücklassen“ ist unser Schlagwort mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit. Das grundlegende Verständnis dahinter lautet: Bildung kann nur gelingen, wenn Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit unterstützt werden. Bildung bedeutet nicht, sie institutionell auf eine schulische Angelegenheit zu verkürzen – es geht um das Lernen und Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in ihrer gesamten Lebenswelt, in der Gesellschaft.
Die Institution, in der Bildung stattfindet oder in der gelernt wird ist also kein Selbstzweck! Alle im Landtag vertretenen Parteien verkürzen Schulen zu einem Selbstzweck. Darum ist es bitter nötig, dass eine Partei die gesellschaftlich so wichtigen Debatten um den Sinn von Bildung im Landtag wieder anzettelt: Und das kann nur DIE LINKE sein!
Fast am Ende der fünfjährigen Zeit der Großen Koalition in Niedersachsen ist Ministerpräsident Stephan Weil froh, dass es so etwas wie einen Schulfrieden gibt. Schulfrieden bedeutet ein friedvolles und harmonisches Miteinander der Schulgemeinschaft. Ein Ministerpräsident ist also der Auffassung, dass alles in Ordnung ist. Das ist an Realitätsverweigerung nicht zu überbieten! Diese Behauptung verkennt, dass es Schulen mit besonderem Bedarf an Unterstützung gibt. In der GEW nennen wir sie Brennpunktschulen. Sie sollen aber nicht so genannt werden. Eine Umschreibung, die um den heißen Brei herumredet, macht die Probleme aber nicht kleiner.
Wo waren wir? Ach ja, beim Schulfrieden. Was fällt mir als Spielverderberin in der Disziplin „Immer alles Schönreden“ noch dazu ein? Lehrkräftemangel. An einer IGS hier in der Region Hannover fehlt derzeit ein Drittel des Kollegiums. Nach Auffassung von Herrn Weil müssen dann halt nur 140 statt 200 Kolleg:innen für ein friedvolles und harmonisches Miteinander sorgen. Nach über zwei Jahren Schulbetrieb in der Pandemie fällt mir dazu vieles ein. Schulfrieden kam dabei nicht vor und das ist auch mehr als unpassend. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Kolleg:innen! Fast zwei Jahre lang wurde vom Kultusminister Grant Hendrik Tonne behauptet: Die Schulen sind nicht die Orte der Ansteckung!
In der Erinnerung waren die Schulen monatelang im Lockdown. Das stimmt nicht! Die Grundschulen waren immer offen! Hier sind wir wieder beim Sinn und Zweck der Institution Schule: Schulen müssen so schnell wie möglich wieder öffnen. Denn: die Eltern müssen arbeiten gehen. Der besondere Umstand bei den Grundschulen: dort arbeiten überwiegend Frauen. Sie wurden deutlich mehr in die Präsenz genommen! An dieser Stelle seien die Kitas erwähnt. Kinder aus der Ukraine sollen schnell einen Betreuungsplatz bekommen. Dafür wird nun die erlaubte Größe der Gruppen angehoben. Auf der einen Seite ist das nachvollziehbar. Was mich dennoch daran ärgert: Wieder und wieder sind es Frauen, denen immer noch mehr zugemutet wird.
Zurück zur Pandemie und den Schulen: Monatelang war von den Szenarien A, B und C zu hören. Klassen in Präsenz, in halber Größe vor Ort oder ganz im Home-Schooling. Diese ständige Planungsunsicherheit war aus Sicht des Kultusministers nicht mehr tragbar. Seine Parole: „Wir wollen so schnell wie möglich zurück zum Normalzustand.“ Meine innere Reaktion: Der Normalzustand, den Tonne hier meint, war immer schon Scheiße! Es ärgert mich maßlos, dass politische Entscheidungsträger:innen nichts aus der Zeit der Pandemie gelernt haben. Viel schlimmer noch: die flächendeckende Anschaffung von Luftreinigern ist unterlassen worden. Es sind noch nicht einmal alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden, um Kinder, Jugendliche und Beschäftigte ausreichend zu schützen.
Welche Schlüsse können wir aus der Pandemie ziehen? Eine wichtige Erkenntnis, die Schüler:innen wie Lehrkräfte hervorheben: das Arbeiten in halbvollen Klassen in Präsenz war deutlich entlastender, als der Normalzustand, den Tonne beschwört. Also muss die Reise genau in diese Richtung gehen: wir brauchen flächendeckend deutlich kleinere Klassen! Und was macht die SPD daraus: ihr Schwerpunkt zur Landtagswahl ist die flächendeckende Ausstattung der Schüler:innen ab der 3. Klasse mit Tablets. Das ist die nächste Stufe der Realitätsverweigerung. Den immer stärker werdenden Fachkräftemangel in Schulen blenden die komplett aus. Oder hoffen sie darauf, dass die Tablets das fehlende Personal ersetzen? Der Sinn und Zweck für den Einsatz von Tablets in Schulen muss pädagogisch beantwortet werden!
Tablets im Unterricht sind ein Hilfsmittel! Der Umgang mit ihnen darf nicht mit den Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf einer Stufe stehen! Diese Geräte sind kein Selbstzweck und schon gar kein Heilsversprechen. Ihr Einsatz in der Pädagogik muss vorbereitet sein. Die Vorarbeiten dafür – Ausarbeitung von Konzepten, Schulungen und Weiterbildung der Beschäftigten, hat das Kultusministerium verschlafen! Die ausbeuterischen Bedingungen der Herstellung und die ökologische Frage werden dabei nicht einmal aufgeworfen.
Unterm Strich sind die Schulen in den letzten fünf Jahren schlecht verwaltet worden. Von Weiterentwicklung kann überhaupt keine Rede sein! Und hier sind unsere Anknüpfungspunkte: Die Integrierten Gesamtschulen haben keine politische Lobby mehr! Weder SPD noch Grüne setzen sich offensiv für sie ein. Sie knicken devot vor den Eltern ein, die das Gymnasium als DIE Wahl für das eigene Kind ansehen. Die Zeiten des Aufbruchs an den IGSen sind lange her. Seitdem sind viele politische Entscheidungen getroffen worden, die die Arbeit der IGSen erschwert haben. Seit Jahren dürfen nur noch Gymnasialkolleg:innen an den IGSen neu eingestellt werden. Viele von ihnen wollen so schnell wie möglich von dort weg. Diese Haltung zu den IGSen – Ablehnung und im besten Falle Gleichgültigkeit – verändert die Kollegien und damit diese Schulform von innen heraus.
Wir brauchen dringend eine Reform der Lehramtsausbildung! Zurück zur Einphasigkeit, wie es mit Modellen in Bremen und an der Uni Oldenburg einmal üblich war. Einphasig, weil die Phase des Studiums eng begleitet wurde mit Praxisanteilen in Schule. Und wir müssen weg von der mehrfachen Unterscheidung der Ausbildung nach Schulformen.
Mit Blick auf das Jahr 2026 müssen sich Grundschulen auf das Recht von Kindern ab Klasse 1 auf den Besuch einer Ganztagsgrundschule vorbereiten. Das ist eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre für das Land Niedersachsen und die Kommunen als Schulträger. Klar und deutlich müssen wir fordern: dabei darf kein Sparmodell herauskommen! Ein guter Grundschulganztag bietet ein gesundes, nahrhaftes, kindgerechtes und kostenloses Mittagessen an. Darum gruppieren sich Unterricht, Betreuungsangebote und Freispiel. Das gelingt nur mit gebundenen Ganztagsschulen. Gebunden bedeutet: alle Schüler:innen besuchen die Schule verpflichtend bis zum Nachmittag. Mir ist bewusst, dass das nicht bei allen Eltern gut ankommt. Betont habe ich bereits, dass wir besonders diejenigen im Blick haben, die sozial ausgegrenzt werden. Eltern mit einem höheren sozialen Status argumentieren: dann kann mein Kind am Nachmittag nicht diesem oder jenem nachkommen: Musikunterricht, Reiten oder andere Sportarten. Dann müssen diese halt in das schulische Angebot integriert werden. Erst so wird ein Schuh daraus. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die es sich leisten können früher am Tag die Schule verlassen und die „übriggebliebenen“ unter sich bleiben.
Wir müssen in Niedersachen für eine demokratische Schulverfassung streiten. Die eigenverantwortliche Schule, die die Unzulänglichkeiten und Fehler im System letzten Endes den Schulleitungen zuschreibt gehört abgeschafft! In einer neuen Schulverfassung müssen Schüler:innenräte ab der ersten Klasse festgeschrieben sein und nicht erst ab der 5. Klasse. Die Integrierten Gesamtschulen müssen darin so ausgestaltet werden, dass sie für Eltern wie für Attraktiv und damit die Schulen ihrer Wahl werden.
Und bei dem Thema gleiche Bezahlung für gleichwertige Tätigkeiten gehören Lehrkräfte in den Grundschulen gleichgestellt. Alle Parteien gaben noch in 2017 das vollmundige Versprechen: Bezahlung nach A13 für Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte. Abgespeist wurden sie mit einer monatlichen Mehrzahlung von nicht ganz 100 Euro. Immer und immer wieder mussten wir uns anhören, die SPD könne sich in dieser Frage nicht gegen den CDU-Finanzminister durchsetzen. Herr Weil, das hätten Sie zur Chefsache erklären müssen!
Beim Thema Finanzen können wir auch bei den Hochschulen anknüpfen. Aus Sicht mancher Hochschulbeschäftiger ist zu hören: diese Landesregierung hat Niedersachsen als Wissenschaftsstandort aufgegeben. Für viele Forschende ist es attraktiver gerade in die südlichsten Bundesländer abzuwandern. Sie werden gelockt mit einer deutlich besseren Ausstattung ihrer Institute. Der Befristungswahnsinn im Hochschulbereich muss aufhören. Studentische Beschäftigte als Mitarbeitende im öffentlichen Dienst dürfen nicht länger aus dem Tarifvertrag ausgenommen bleiben! Zur Ausfinanzierung der Hochschulen muss der Investitionsstau angegangen werden. Gestern las ich, dieser liegt bei lächerlichen 3,1 Milliarden Euro. Lächerlich finde ich das vor dem Hintergrund, dass sich der Bundestag daran besoffen geklatscht hat, dass die Bundeswehr jetzt mit einem Sondervermögen von dem Zehnfachen ausgestattet werden soll.
Stellt euch nur einmal vor, wir würden in Niedersachen nur ein Zehntel von dieser Summe zusätzlich in die Bildung stecken. Dann wäre nicht von heute auf morgen alles gut, aber wir könnten damit anfangen in ein gerechtes Bildungssystem zu investieren. Meine Ausführungen sind ganz sicher nicht vollständig und uneingeschränkt gelten sie keinesfalls. Mit Blick auf unser Wahlprogramm zur Landtagswahl hoffe ich, einige Anregungen für die weitere Diskussion gegeben zu haben.