Von Steffen Schumann

Immerhin in einer Frage herrscht Einigkeit: Die Lage ist ernst. Russische Truppenmanöver versetzen die ukrainische Regierung wie auch die NATO in höchste Alarmbereitschaft. Diplomatische Gespräche stecken weitestgehend fest. Wie so oft werden in diesem historisch zugespitzten Konflikt aber Ursache und Anlass vermischt, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte, scheint interessanter als das Fass selber. Eine historische Einordnung ist wichtig, um politisch denken zu können.

Eine verspielte Chance

Der Untergang der Sowjetunion bedeutete damals den absoluten Sieg des Westens. Es sei jetzt eine Frage der Zeit, bis alle Staaten das Modell des westlichen Liberalismus übernehmen würden und sich Konflikte zwischen Ost und West erübrigen. Leider ist Francis Fukuyama, der für eben diese Thesen stand, ein weniger kluger Analytiker, wie es z.B. Egon Bahr war. Noch 2005 mahnte der SPD-Bundesminister a. D. in einem Deutschlandfunk-Interview an, die “Anbindung Russlands an westliche Werte” sei “eine historische Aufgabe”. Damit nie wieder Krieg herrsche, “müsse Russland einbezogen werden”. Wladimir Putin äußerte knapp vier Jahre zuvor im Bundestag den Wunsch einer neuen gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa. Nun ist in diesen 20 Jahren seit Putins Rede viel passiert, auf russischer Seite ebenso wie auf Seiten der NATO. Putin äußert seine Interessen deutlich aggressiver und militärischer, die USA hat durch ihre Regime-Change-Kriege den Nahen Osten drastisch destabilisiert. Doch trotz der veränderten geopolitischen Koordinaten müssen wir konstatieren: Der Westen war gegenüber dem Verlierer des Kalten Krieges zu arrogant. Die Nato, ebenso auch Deutschland als Teil dieses Bündnisses, haben Russland nicht als ebenbürtigen Akteur akzeptiert, sondern das getan, was historisch noch nie ein gutes Rezept war: eine Großmacht zu demütigen. 

Doppelstandards machen unglaubwürdig

Mit der NATO-Osterweiterung rückte der Westen immer näher an die russische Grenze heran. Jährlich geben die Bündnisstaaten zusammen bis zu einer Billion Euro für Militär und Aufrüstung aus. Dagegen erscheinen die jährlichen rund 65 Milliarden Euro auf russischer Seite wie Kleinkram. Statt ein Zeichen der Annäherung und notwendige Schritte zur globalen Abrüstung zu gehen, ist der Westen heute bis an die Zähne bewaffnet und demonstriert dies auch nur zu gerne. Mit dem Truppenmanöver “Defender” trainiert die NATO in Osteuropa militärische Angriffe vor den Toren Russlands. Nun verweisen die hochrangigen Vertreter des Westens immer wieder darauf, dass Moskau all das zu akzeptieren hätte, weil die Truppenmanöver und auch die Osterweiterung Wünsche der jeweiligen souveränen Staaten sind. Diese Aussage ist so korrekt wie karitativ, denn man stelle sich einmal vor, Russland würde eine rechtlich legitime Kooperation mit Mexiko eingehen und südlich von Texas Truppenmanöver abhalten. Es braucht hier keinen Nostradamus, um sicher zu prognostizieren, dass die USA derartiges– nie zulassen geschweige denn akzeptieren würde – man erinnere sich an John F. Kennedys Reaktion 1962 bei der Entdeckung sowjetischer Atomwaffen auf kubanischem Staatsgebiet.

Historische Verantwortung ernst nehmen

In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, feststellen zu müssen, dass sich Deutschland, EU und Nato außenpolitisch nicht weiter-, sondern im Vergleich zur Entspannungspolitik der 70er Jahre deutlich zurückentwickelt haben. Während des Kalten Krieges provozierten sich beide großen Blöcke, West und Ost in bestimmten Jahresabschnitten durchaus gerne. Eines war allen Akteuren jedoch klar: Der Gegner ist nicht zu unterschätzen. Man wusste durchaus, was beim Kontrahenten  als Provokation wahrgenommen werden konnte und zu was der Gegner in der Lage sein kann, wenn er will. 

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich die Einschätzung, man nahm Russland nicht mehr für voll. Jede politische Entscheidung des Westens – von der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO, über große Wirtschaftssanktionen bis hin zum Ausschluss aus der G8 – würde Moskau schon hinnehmen müssen, was sollen sie auch tun? Dass Deutschland diese Politik nicht nur mittrug, sondern sogar vorantrieb, ist ein Offenbarungseid. Mit Ausnahme von Israel hat Deutschland keinem Staat gegenüber eine so große historische Verantwortung, wie Russland. In vier Jahren Krieg zwischen 1941 und 1945 kamen 27 Millionen Sowjets durch Wehrmacht, SS, SD und Polizeieinheiten ums Leben. Ein beispielloser Vernichtungskrieg, kein Land hat nur annähernd so viele Opfer zu beklagen, kaum eine Familie im Osten ist von Toten verschont geblieben.  

Die damaligen Verbrechen bedeuten nicht, dass heute eine klare Kritik an der Politik Russlands nicht legitim sein kann. Deutschland sollte jedoch ein besonderes Fingerspitzengefühl zeigen und immer bedenken, was unsere damalige Generation den Menschen im Osten angetan haben. Eine respektvolle Herangehensweise suchen wir aber leider vergebens. In der breiten Medienlandschaft hat – um es vorsichtig zu sagen – der Fanclub der Differenziertheit in Sachen Russland  nur wenige Mitglieder. Höhepunkt waren die Krim-Krise und der Konflikt in der Ost-Ukraine im Jahr 2014. Es sei an die vielen Überschriften in Artikeln angesehener Zeitungen erinnert (Genug gesprochen (Tagesspiegel), Stärke zeigen (FAZ), Ende der Feigheit (Spiegel), jetzt oder nie (Süddeutsche)), die eher nach einer Generalmobilmachung klangen als nach einer verantwortungsbewussten Auseinandersetzung. Und auch in diesen Wochen bekommt man nicht das Gefühl, die Tages- und Wochenzeitungen würden an einem Preisausschreiben für ausgewogene Berichterstattung teilnehmen (Wenn die Russen kommen (FAS), Weltrisiko Putin (Handelsblatt), Der eiskalte Krieger (Spiegel), Kommt Krieg (Stern). Kalte Augen und böse Blicke des russischen Präsidenten dürfen natürlich nicht fehlen.Es sind aber nicht nur die Medien, auch führende Repräsentanten unseres Staates bekleckern sich seit Jahren nicht mit Ruhm, wenn es um die Würdigung der historischen Leistung der Sowjetunion geht. Zum 8. Mai 2020 erwähnte Bundespräsident Steinmeier die historischen Befreier der Roten Armee nicht einmal. 

Geschichtsvergessenheit wie diese sind nicht einfach Anekdoten für Historiker. Sie befördern politische Konflikte. Berlin, Brüssel und Washington wollen oder können die Gegenseite scheinbar nicht verstehen – womit wir wieder zur aktuellen Kriegsgefahr kommen. Die NATO gibt Russland alleine die Schuld für die Krise, sie selbst verweisen gebetsmühlenartig darauf, keine Bestrebungen zu haben, Russland militärisch durch Truppenmanöver, Osterweiterungen und Kriegsrhetorik bedrohen zu wollen. Mag diese These sogar stimmen, der Kreml wie auch die dortige Bevölkerung scheinen das fundamental anders zu sehen. Einer aktuellen Umfrage in Russland zufolge sind nur vier Prozent der Befragten davon überzeugt, dass Russland an einem möglichen Konflikt schuld wäre, sagt die Soziologin Marija Matskewitsch im Sender „Echo Moskwy“. Vielmehr stehe an erster Stelle die NATO – und zwar mit großem Abstand. Selbst wenn Teile dieser Stimmungen Ergebnis von politischer Propaganda, wachsendem Nationalismus oder geringer Selbstreflexion sein könnten: Ist es wirklich hilfreich, wenn die Vertreter des Westens – im Auftrag des Friedens natürlich – weiterhin den russischen Bären als den Antagonisten definieren? Berlin, Brüssel und Washington agieren ähnlich wie die planlosen Akteure, die nach Bismarcks Entlassung 1890 in die Wilhelmstraße eingezogen sind, Deutschlands Außenpolitik auf den  Kopf stellten und Europa sehenden Auges ins Verderben, in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, liefen lassen.

Wie groß die Kriegsgefahr heute wirklich ist, können die zuständigen Ämter und Geheimdienste wahrscheinlich besser einschätzen, als Außenstehende. Klar sollte aber jedem sein, dass die NATO Russland auf Augenhöhe begegnen und prinzipiell bereit sein sollte, russische Forderungen zu erfüllen, damit die Lage nicht eskaliert. Der Westen fordert Russland auf, an den Tisch zurückzukehren, den er selber verlassen hatte. Das bringt eine notwendige Kompromissbereitschaft mit sich. Wenn also die russische Truppenkonzentration nahe der ukrainischen Grenze, genauso wie auch russische Hackerangriffe beendet, wenn die territoriale Integrität der Ukraine von Moskau garantiert werden sollen, sind auch umgekehrt Zugeständnisse an Putin notwendig. Es darf unter keinen Umständen zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen. Ein Krieg zwischen zwei Atommächten würde Europa ins Elend stürzen. Nur eine neue europäische Sicherheitsordnung, verbunden mit gemeinsamer verbindlicher Abrüstung und der Einhaltung gegenseitig gemachter Versprechen, kann den Frieden und das freundschaftliche Zusammenleben ermöglichen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert