Ein Gespräch zwischen Anne Zimmermann (Angehende Grundschullehrerin und Mutter) und Heidi Reichinnek (Mitarbeiterin in der Jugendhilfe)

H: Seit über einem Jahr hat die Coronapandemie uns fest im Griff – was war in diesem Jahren deine prägenste Erfahrung bezüglich der Situation von Kindern und Jugendlichen?

A: Die Situation und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sind in der anfänglichen Debatte um die Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung völlig untergegangen. Es war selbstverständlich, dass sie sich diesen neuen Regelungen unterzuordnen hatten. Doch das entspricht ja in keiner Weise dem, was Kinder und Jugendliche leisten können. Und das hat man den ihnen eben angemerkt. Meine Tochter hat mich gefragt: „Mama, wann ist Corona eigentlich endlich vorbei?“. Was antwortet man als Mutter auf so eine Frage? Dabei geht es meiner Tochter recht gut trotz Krise. Was ist mit den Eltern, die da keinen Ausgleich für ihre Kinder schaffen können? Wie war das bei dir in der Jugendhilfe?

H: Für mich besonders frustrierend und schockierend war die Aussage: Ich habe ein Jahr meiner Jugend verloren. Kinder und Jugendlichen sind da nämlich durchaus sehr reflektiert und sensibel, sie wissen genau, dass die Zeit, die sie jetzt nicht nutzen können, nie wieder kommt. Und dieses Gefühl, dieser Frust – das kommt doch in der Diskussion gar nicht vor. Thematisch dreht sich alles um die Öffnung von KiTas und Schulen – mit Blick darauf, dass die Eltern ihre Arbeitskraft ungehindert zur Verfügung stellen können und die zukünftigen Arbeiter*innen von morgen bitte entsprechend des Schulsystems abfragbares Wissen erlernen, damit sie vergleichbar und kategorisierbar sind.

A: Hier regiert mal wieder ganz klar das Recht der Stärkeren. Eltern und Kinder müssten hier viel mehr in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Daneben stehen allerdings auch die Erzieher*innen im Kindergarten und die Lehrkräfte an den Schulen. 90% der Lehrkräfte gaben in einer Analyse der DAK zum Beispiel an, dass sie das letzte Schuljahr viel anstrengender empfanden, als das Jahr zuvor. Fast ein Drittel ist von Burnout-Symptomen betroffen. Ebenso viele haben sogar Angst zur Arbeit zu gehen. Die Kultusministerien hätten in Schulen und Kitas schon längst für einen besseren Gesundheits- und Infektionsschutz sorgen müssen. Hier gibt es wirklich noch viel Verbesserungspotential.

H: Kein Wunder, das Lehrer*innen erschöpft sind. Ziemlich durchschaubar war: Öffnung, aber bitte so billig wie möglich. Statt flächendeckend Luftfilter anzuschaffen, saßen Kinder im tiefsten Winter dick eingepackt bei offenem Fenster. Zynisch die hilfreichen Tipps Kniebeugen zu machen und in die Hände zu klatschen. Die durften die Kinder dann oft mit eiskaltem Wasser waschen. Wenn überhaupt ausreichend Waschbecken zur Verfügung standen. Hier zeigt sich, wie Schulen systematisch kaputtgespart wurden. An geteilte Klassen war dank Raum- und Personalmangel gar nicht zu denken. Die Impfungen für die Mitarbeitenden und regelmäßige Selbsttests liefen bestenfalls schleppend an. Und nebenbei mal eben Digitalisierung – hier wurde von Bund und Ländern so viel verschlafen. Wir brauchen massive Investitionen und mehr Personal. Abgesehen davon, dass unser preußisches Schulsystem schon lange nicht mehr zeitgemäß ist.

A: Da müsste man schon in der Ausbildung der Lehrkräfte ansetzen. Wieso ist immer noch keine Medienpädagogische Grundausbildung in der Ausbildung vorgesehen? Klar müssen allen Kindern und Jugendlichen Internetzugang, Computernutzung und eine Rückzugsmöglichkeit zum Lernen zur Verfügung stehen, aber wenn die Lehrer*innen mit der Technik nicht umgehen können, dann hilft das alles auch nicht viel. Aber werden wir doch mal konkret: wie können wir als LINKE. bei all diesen Problemen helfen?

H: Da muss man erstmal bei den Grundlagen ansetzen: wer wenig Geld hat, hat in unserem Bildungssystem deutlich schlechtere Chancen. Bildung muss komplett kostenfrei sein. Dazu gehören auch ein kostenloses, vollwertiges Mittagessen sowie Lehrmittelfreiheit. Längeres gemeinsames Lernen in Gesamtschulen, die echte Inklusion und Integration ermöglichen. Die Ausbildung von mehr Lehrkräften, der Einsatz von mehr Schulsozialarbeiter*innen – in einem gut aufgestellten Bildungssystem hätte Corona weniger gravierende Folgen gehabt. Aber es geht ja um mehr.

A: Ganz genau! Kinder und Jugendliche sollten insgesamt mehr Möglichkeiten zur direkten Mitbestimmung bekommen. Ihre Rechte müssen endlich ins Grundgesetz aufgenommen werden. Wieso gibt es eigentlich noch kein Grundrecht auf Bildung? Außerdem müssten Angebote der Kinder- und Jugendhilfe als systemrelvante Infrastruktur gelten. Man müsste aber zum Beispiel auch das Kurzarbeitergeld erhöhen. Unterhaltsvorschuss und andere Leistungen müssten unbürokratischer bewilligt werden usw. Es gibt also viel zu tun.

H: Das Thema Kinder und Jugendliche mit allen zugehörigen Aspekten muss auch für den Landesverband zum zentralen Thema werden – Grade im Bildungsbereich liegen ja viele Kompetenzen bei den Bundesländern. Hieran wollen wir in den kommenden Monaten arbeiten. 

Eine Idee zu “Kinder und Jugendliche in der Coronakrise

  1. Rita Krüger sagt:

    Als praktizierende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Traumatherapie möchte ich diesen Bericht gern etwas ergänzen: Es zeigen sich klassische Belastungs- und Traumasymptome wie schlechter Schlaf, Antriebslosigkeit, Konzentrationsmangel oder auch Angstzustände. Das erlebe ich ständig in der Praxis in der ich arbeit. Ca. 23 Prozent der Kinder haben nach noch nicht ganz beendeten Studien mittlerweile Belastungssymptome im klinischen Bereich. Kontaktverbot zu den Großeltern, wochenlanges Eingesperrtsein in den eigenen vier Wänden unter manchmal schwierigen familiären Bedingungen, Homeschooling mit all seinen Tücken und Schwächen für den Lernerfolg, kein Sporttraining, keine Treffen mit Freunden auf Spielplätzen oder in Jugendzentren.
    Dazu kam noch die Rede von Kindern als „Virenschleudern“ und die damit verbundene Angst, man könnte deshalb eine Gefahr für ein älteres oder krankes Familienmitglied sein. Zuletzt noch der Impfaufruf an Kinder und Jugendliche, nachdem sich zu wenige Erwachsene impfen lassen. Politik und Gesellschaft haben den Jüngsten in den vergangenen 20 Monaten besonders viel zugemutet, und das ist nicht ohne Folgen geblieben.

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