Im Januar 2019 machten zwei bayerische Stadträte der LINKEN den Vorschlag, eine Landesarbeitsgemeinschaft Kommunalpolitik zu gründen. Sie sind der Ansicht: „Die Stärke unserer Partei erwächst maßgeblich aus der Kommunalpolitik“. Obwohl ich der Gründung einer solchen LAG zustimme, bin ich der gegenteiligen Meinung der beiden Genossen: Die Kommunalpolitik ist der (mögliche) Untergang jeglicher „linker“ Politik. Das „mögliche“ steht deshalb in Klammern, weil eine Anpassung an die Formen nicht „selbstverständlich“ geschehen muss; allerdings setzt die Nicht-Anpassung die tägliche Anstrengung voraus, antikapitalistisch und radikal zu denken und zu handeln (davon abgesehen, dass Narzissmus und Machtverliebtheit Haltungen sind, die leicht korrumpieren lassen). Ich schrieb den beiden Stadträten zu ihrem Vorschlag: „Ich bin der Meinung, dass eine linke Partei – ebenso wie die SPD in ihrer langen und die GRÜNEN in ihrer kurzen Geschichte bewiesen haben – denselben Fehler machen kann und glauben, Kommunalpolitik würde sie stark machen. Bisher sind alle Parteien über das Naheliegende, das Regionale und den ganzen »Schmus« mit »nah am Menschen« zu realpolitischen, kleinkrämerischen, angepassten Parteien geworden“. Ich plädierte im Sinne einer revolutionär-realpolitischen Strategie für eine Verbindung ders Wissens um die Ausbeutungsmaschine KAPITALISMUS mit den realen Alltagssorgen der Menschen, die sich auch in den kommunalen Gremien (es sind eben keine Parlamente) abbilden müssen. Doch für eine solche Strategie benötigen wir theoretisch fundiertes Nachdenken. Der SPD und den GRÜNEN haben wir voraus, dass eine solche Überlegung bereits ausgearbeitet vorliegt. Rosa Luxemburg, die der Parteistiftung den Namen gibt, hat Anfang des letzten Jahrhunderts eine theoretisch fundierte Strategie entwickelt, die uns auch heute noch zeigen kann, wie die LINKE als antikapitalistische Partei arbeiten müsste. Die Marxist_innen in der Partei haben verstanden, dass die Ursache allen Übels, aller Ungerechtigkeit, aller sozialer, ökonomischer und ökologischer Verheerungen, die kapitalistische Produktionsweise ist, deren einziges Ziel die Erzeugung von Waren zur Erzielung von Profit ist und keineswegs die Herstellung einer Welt, in der alle Menschen frei, gerecht und glücklich leben können. Rosa Luxemburgs Strategie der „revolutionären Realpolitik“ kann deutlich machen, wie gewinnbringend sie für ein (kommunal)politisches Handeln sein kann. Allerdings muss die LINKE eine neue Form von Politik (wieder-)erfinden – um den Menschen zu verstehen zu geben, dass letztlich sie es sein werden, die ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen haben.
2. Revolutionäre Realpolitik
Das Thema Kommunalpolitik wäre für eine radikale LINKE zu nutzen, um über Taktik, Strategie, Reformismus, Rekommunalisierung, Enteignung von Immobilienbesitzern und -spekulanten zu diskutieren und um eine politische Haltung gegen den neuen Faschismus und die neue Nazipartei zu erarbeiten. Dazu ist es notwendig, sollten wir kommunalpolitisch aktiv werden, auf jeder Ebene das tägliche Elend der Menschen in Lohnarbeit (und natürlich im Hartz-IV-Status), im Verkehr (was oft nichts anderes ist als der Weg zur Lohnarbeit) und in den alltäglichen kulturellen, sozialen und sonstigen Bereichen zum Thema machen. Unser „Alleinstellungsmerkmal“ ist, dass wir wissen, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem im Alltag zerstörend und entmenschlichend wirkt. Ein Stadtratskollege schrieb daraufhin: „Wenn Du das so siehst, warum sitzt Du dann im Bezirkstag?“ Die Frage war mir nicht verständlich, hatte ich doch ausgeführt, dass und wie wir in den Gremien arbeiten können. Der Genosse, den ich um eine Antwort bat, darauf: „Ich will die Welt verändern und beginne vor meiner Haustüre. Und wenn Du meine Frage nicht verstehst, kann ich auch nicht helfen“.
Der Widerspruch Haustüre/Welt ist in Wahrheit keiner. Rosa Luxemburg nannte solcherart Entgegensetzungen „grobkörniges Entweder-Oder“ (Brie 2019, S. 110). Ähnlich falsch sei die „Gegenüberstellung von Reform und Revolution“ (ebd., S. 111) und „Maschinengewehre oder Parlamentarismus“ (ebd., S. 112); es komme vielmehr darauf an zu verstehen, dass beides – Beginnen vor der Haustüre und die Weltzusammenhänge auch dort zu erkennen – nicht „verschiedene Methoden sind, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung, die sich einander bedingen und ergänzen, wie z.B. Süd- und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat“ (Candeias 2018, 114). Eine „realistische Tagespolitik, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit den wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß“ (ebd., S.116), greift zu kurz. Diese Realpolitik endet dort, wo SPD und GRÜNE sich schon seit langem tummeln: auf der Bühne des Parlamentarismus mit seiner Eigenlogik, welcher – dazu reicht die „Bestechung“ durch hohe Abgeordnetenbezüge und der Glaube daran, zur politischen Elite zu gehören – immer und immer wieder dazu führt, dass der „Laden nicht auseinanderfällt“, wie Angela Merkel das vor Jahren sagte; also: dass alles beim Alten bleibt.
LINKE müssen sich klar darüber sein, dass – in Bezug auf die parlamentarische Vertretung und Kommunalpolitik – sie in Gremien sitzen, die nichts anderes sind als Verwaltungsorgane. Kommunale Selbstverwaltung bzw. das, was davon übriggeblieben ist, bedeutet „die Wahrnehmung derjenigen Aufgaben durch die Gemeinden, die für die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft notwendig [ist], vom Staat jedoch nicht wahrgenommen [wird]“ (Gotthold 1978, 348). Im besten Fall erreichen wir, dass Prozesse und Entscheidungen skandalisiert werden; im schlechtesten Fall stehen wir vor der Tatsache, dass GRÜNE, SPD, CSU und andere Parteien (auch die AfD) völlig einverstanden sind mit der betriebswirtschaftlich grundgelegten Teilprivatisierung öffentlicher Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser). Genau hier können wir mit der Strategie einer „revolutionären Realpolitik“ ansetzen und zeigen, dass diese Kommunalunternehmen als oberste Priorität „schwarze Zahlen“ als Ziel ausgeben und darüber vergessen, ob es den Patient_innen gut oder schlecht geht; und ob die Mitarbeiter_innen ausgebrannt sind durch permanente Überlastung, durch ein unerträgliches Betreuungsverhältnis (Mitarbeiter_in zu Patient_innen) von 15:1 usw. Hier können wir das leisten, was weit über den Bereich vor der Haustür hinausgeht und unser Pflege-Volksbegehren ebenso in den Mittelpunkt der bezirklichen Debatten stellen wie wir eine Gesundheitspolitik angreifen, welche Profitorientierung in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt und nicht das Wohlergehen der Menschen. Radikal sein heißt nach Marx „die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“ (Marx 1983, S.385). Die reale Situation des Menschen in besonders kritischen Lebenslagen (Psychiatrie, Sucht, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Krankheit etc.) ist dabei unser Ausgangspunkt. Doch wir sollten uns in diesem Bereich nicht darauf beschränken, Politik für die Menschen zu machen, sondern – wenn es geht – mit ihnen. Ob in der Zusammenarbeit mit Behindertengruppen, mit Kulturschaffenden oder mit Menschen, die in Suchteinrichtungen beraten werden – Ziel linker Politik muss sein, „Selbstorganisation und Selbstermächtigung zu unterstützen und zum Vorwärtsgehen zu ermutigen, wenn dafür der Zeitpunkt gegeben scheint“ (Brie 2018, S.112).
3. Staat und Parlamentarismus
Die Tag für Tag weitgehend ungestörte Ausbeutung der Menschen durch das Kapitalverhältnis wird staatlich garantiert; die Parlamente sind dazu da, jegliche Störung frühzeitig zu „reparieren“ oder aber – sollten die Menschen die Dinge doch in ihre Hände nehmen wollen – dafür zu sorgen, dass Polizei und Militär (wie 1919) solcherart Rebellion und Opposition zerschlagen. Diese Logik des Parlamentarismus, der auch und gerade für die mit wenig Kompetenzen ausgestatteten kommunalen Gremien gilt, hat dafür gesorgt, dass ehemals reformistische oder gar radikale Parteien wie SPD und GRÜNE schon „so weit vom parlamentarischen Idiotismus angegriffen“ (Marx 1977, S.413/14) sind, dass sie für einen Dienstwagen und einen späteren Job in der freien Wirtschaft sich selbst, ihre Überzeugungen und ihre Wähler_innen „verraten“. „Nur Fundamentalopposition ist daran interessiert, politische und gesellschaftliche Missstände schonungslos aufzudecken“ (Agnoli 2004, S.87), schreibt der linksradikale Politologe Johannes Agnoli in seiner Analyse des bundesdeutschen Parlamentarismus. Er macht deutlich, wie Parlamentsarbeit linke Bewegungen und Parteien immer „aufgefressen“ hat: „Im Schlussakkord heißt es dann: Gute Politiker_innen und Politiker braucht das Land, im Grunde also eine Herrschaft mit menschlichem Gesicht“ (ebd., 197). Die Tendenz in (vor allem) den kommunalen Gremien zu Harmonie und Geselligkeit („Sich als Menschen begegnen“) kann LINKE dazu „verführen“, den politisch radikalen Standpunkt aufzugeben und eine klare und herrschaftskritische Position erst gar nicht öffentlich zu vertreten. Doch wir sollten uns nichts vormachen: Auch mit Freundlichkeit und Untertänigkeit werden wir nichts erreichen – außer der Ankerkennung derer, die politisch alles beim Alten bleiben lassen wollen.
Demokratisch verfasste Gremien sind jedoch nicht nur Erfüllungsgehilfen der herrschenden Ordnung, sondern auch „eine zentrale Bühne des Kampfes einer Vielzahl von Gruppen, deren Parteien und Redner_innen … um die gesetzgeberische Gestaltung der Gesellschaft… streiten“ (Brunkhorst 2018, S.25). Der Streit dreht sich um Inhalte, die aber immer landes-, bundes- oder weltpolitische Bedeutung haben und in denen sich abbildet, welche Form des gesellschaftlichen Lebens (gemeinschaftlich, frei und selbstbestimmt oder verwaltet, fremdbestimmt und abhängig) die einzelnen Gruppierungen als Ziel ihrer Politik und damit ihres Menschenbilds ausgeben. Gesundheitspolitik, Kulturpolitik, Verkehrspolitik, Psychiatriepolitik, Suchtpolitik, ökologische und ökonomische Zusammenhänge beinhalten Fragen, zu denen wir uns radikal positionieren müssen, um immer wieder aufzuzeigen, dass die Verwertung und Verzweckung des Menschen (wofür auch immer) das ist, wogegen wir arbeiten. Linke Politik als revolutionäre Realpolitik und als Streben nach dem Unmöglichen wird sich für die LINKE bewähren: Dazu muss sie bestehende Machtverhältnisse inhaltlich wie strukturell angreifen (Koalitionen mit geheimen Absprachen, männliche Dominanz in den Gremien, mangelnde Vertretung durch die Betroffenen und ihre Gruppierungen etc.) und stellt die hegemonialen Strukturen, die sich In Bayern z.B. die CSU in Jahrzehnten erarbeitet hat, infrage. Sie zeigt – Beispiele dafür sind vorhanden – die utopischen Momente einer gemeinwesenorientierten Ökonomie auf und kritisiert damit implizit kapitalistische Verhältnisse (vgl. Weber 2010). Vor allem aber vergisst sie nicht die Darstellung einer den Kapitalinteressen verpflichteten Politik (CSU und Immobilienbesitzer, CSU/SPD und Siemens, Allianz, BMW etc.), einer unhinterfragten Kulturpolitik (CSU und die Kirchen, CSU und die reaktionären militaristisch auftretenden Gebirgsschützen etc.) und einer Sozial- und Gesundheitspolitik, die in Krisenzeiten Einsparungen zu Lasten des Personals und der kranken Menschen vornehmen wird. In akribischer Kleinarbeit ist die LINKE in der Lage, die Gründe für die sozialen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen im Zusammenhang mit der Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft zu denken und sie überwindende Perspektiven zu entwickeln (Bürgerhaushalt, veränderte Arbeitsbedingungen in den bezirklichen Kliniken, Stärkung der Selbstbestimmungsrechte behinderter Menschen über die Forcierung des Persönlichen Budgets etc.). In der Wirklichkeit wird sie für demokratisierende und emanzipatorische Veränderungen mit all denen punktuell zusammenarbeiten, die – wie Teile der GRÜNEN, der SPD, der ÖDP oder manchmal gar ein Freier Wähler – diese Veränderungen ebenso wollen. Machen wir uns aber nichts vor: Oft werden wir mit unseren Anliegen alleine bleiben. Die LINKE wird – die Gefahr droht vor allem bei den GRÜNEN – aufzeigen, wie Machtpositionen korrumpieren können und Inhalte aus machttaktischem Kalkül aufgegeben werden (siehe in Oberbayern die bedenkenlose Zustimmung der GRÜNEN zu Zuschüssen an das Erzbistum München im Denkmalbereich und an die Schützenvereine und die Gebirgsschätzen ohne Prüfung einer ökonomischen Notwendigkeit; gar nicht erst zu reden von der Teilprivatisierung der Kliniken, welche GRÜNE und CSU vor mehr als 12 Jahren ins Werk gesetzt haben). So unbedeutend die LINKEN in Bezug auf die realen gesellschaftlichen Veränderungen sein mögen, so bedeutsam ist ihre Arbeit gleichzeitig, weil sie eine Ahnung und einen Vorschein einer anderen, besseren, nicht von Kapital- und Profitinteressen dominierten Entwurf menschlichen Zusammenlebens ermöglicht und dieses Ziel in den Mittelpunkt ihrer politischen Tätigkeit rückt.
4. Demokratie ist Sozialismus – Sozialismus ist Demokratie
Das Konzept einer revolutionären Realpolitik wird jedoch nicht nur auf die Inhalte (Gesundheitspolitik, Antifaschismus, Gleichbehandlung etc.) Wert legen, sondern auch dazu beitragen, dass der Gedanke (wieder)erstehen muss, dass Parlamente und kommunale Gremien nur eine Vorform einer Gesellschaftsform sind, wie wir sie wollen. Als Fernziel kann gelten, dass die Menschen ihr Leben und die alltäglichen Dinge ihres Lebens, ihres Arbeitens und ihres Liebens wieder selbst in die Hände kriegen. Natürlich wissen wir, dass Privateigentum an Produktionsmitteln sowie an Grund und Boden die zentralen Kampffelder wären, auf denen wir für eine Vergesellschaftung dieser Mittel arbeiten. Dazu gehört aber auch, dass wir Parlamente und Verwaltungsgremien als Stellvertreter-Institutionen erkennen, die den Menschen nicht ermöglichen, ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wenn wir in den Parlamenten und den Gemeinde- und Stadträten glaubwürdige Politik machen wollen, dann müssen wir einen anderen Begriff von Demokratie im Kopf haben als die korrumpierten Staatsparteien von GRÜNEN bis hin zur CSU. Demokratie ist keineswegs das, was wir als parlamentarische Demokratie seit Kindheit kennenlernen, sondern sie ist die politische Form, in der die Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam regeln; oder, um es in den Worten des englischen Marxisten Stuart Hall auszudrücken: „In der Tat ist die wohl wichtigste Lektion …, dass die Ausweitung der Demokratie im Zentrum des heutigen sozialistischen Denkens stehen muss. Demokratie ist keine formale Angelegenheit von Wahlkampf- oder Verfassungspolitik. Sie besteht in der wirklichen Übertragung von Macht an die Machtlosen, der Ermächtigung der Ausgeschlossenen. Der Staat kann das nicht für die Machtlosen tun, obgleich er ermöglichen kann, dass es geschieht“ (Hall 2000, S.234). Anträge, welche den Betroffenengruppen mehr Handlungs- und Entscheidungsspielraum (dazu gehört auch die Verfügung über finanzielle Mittel) ermöglichen sollen, sind im Sinne eines solchen Demokratiebegriffs ebenso nötig wie Anträge, welche den Kirchen verbieten, kirchliches Arbeitsrecht in ihren Einrichtungen anzuwenden bzw. Anträge, die finanziell sicherstellen, dass über kommunale Leistungsvereinbarungen Betriebsrats-, Personalrats- und MAV-Arbeit geleistet werden kann. Unsere Anfragen und Anträge sind jedoch auch ein Mittel, um zu zeigen, wie viele Gremien seit Jahren vor sich hindümpeln, ohne festgefahrene Rituale und Entscheidungen zu hinterfragen. Gerade die LINKEN können und sollen ein Feuerwerk eröffnen, das – wenn wir die Medien und das Internet geschickt nutzen können – dazu führen wird, die eingerosteten Strukturen deutlich zu machen, auch wenn wir so (noch nicht) viel verändern können.
6. Mietpolitik als Beispiel
Ein aktuelles Beispiel mag deutlich machen, wie wichtig wir LINKEN sind, wenn wir die Position der „revolutionären Realpolitik“ einnehmen. Im Personalausschuss des Bezirks Oberbayern wird über eine „Arbeitsmarktzulage“ gesprochen, die der Bezirk zum Lohn zuschießen kann, wenn jemand eingestellt wird (mit besonderen Auflagen verbunden). Alle Vertreter_innen der anderen Parteien beklagten die hohen Preise auf dem Münchener Wohnungsmarkt und die damit einhergehende Tatsache, dass Bezirk und Stadt München gleichzeitig um qualifiziertes Personal ringen. Auch SPD und Vertreter der GRÜNEN kommen nicht auf die Idee, die Ursache dieses Skandals zu erwähnen: Immobilienspekulation, mangelnde Förderung von Genossenschaften sowie die Möglichkeit einer Enteignung bzw. einer Immobilienabgabe. Selbst wenn die LINKE (z.B. aus strategischen Gründen) in diesem Zusammenhang nicht von Enteignung reden will, so hat sie immerhin das Recht und die Pflicht, die Bodenspekulation (die für Marx neben dem Privateigentum an Produktionsmitteln ein zentraler Bestandteil kapitalistisch erzeugter Ungerechtigkeit darstellt) anzuprangern und aus der Bayerischen Verfassung den Artikel 161 zu zitieren: „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen überwacht. Missbräuche sind abzustellen. Steigerungen des Bodenwerts, die ohne besonderen Arbeits- und Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen“ (Lindner et al., 2017, S.1190). Selten kann die LINKE Politiker_innen von SPD, CSU und Freien Wählern vorwerfen, sie würden nicht auf dem Boden der Verfassung stehen – in diesem Fall ist es, nicht nur aus taktischen Gründen, eine wunderbare Finte. Wir LINKEN sollten die Gegner_innen mit belastbaren Argumenten, radikal, klug und fantasievoll in die Enge treiben. Es reicht nicht, die bestehende Welt gut oder besser zu verwalten – wir brauchen eine neue Welt; und daran arbeiten wir, Tag für Tag.
6. Schluss
„Ginge da ein Wind
Könnte ich ein Segel stellen.
Wäre da kein Segel
Machte ich eines aus Stecken und Plane“.
(Brecht 1967a, S.1009)
Am Schluss zwei Sätze, die für unser Thema als Leitmotive sinnvoll sein können. Der eine richtet sich an Genoss_innen, die meinen, der Platz vor ihrer Haustüre und die Welt seien ohne Zusammenhang; der andere kann als Tageslosung dienen. „Die Widersprüche sind die Hoffnungen“ von Brecht (1967, 139) soll Motto sein, um nicht aufzugeben bei der emanzipatorischen Arbeit in einer Welt, in der vieles auseinandergefallen und zerstückelt erscheint und wir nicht immer die Fäden zusammenhalten können. Und: „Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen“ (Kluge & Negt 1981, 1283) kann uns als Motto dabei helfen, mutig zu sein beim Finden von Ideen, die wir in Anfragen und Anträge, in Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen umsetzen. Nicht alles Vorgedachte ist gut und brauchbar; am Besten sind immer noch die Fehler, die wir selbst machen und aus denen wir lernen.
Von Klaus Weber
Literatur
Agnoli Johannes (2004). Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Hamburg: Konkret Literatur Verlag.
Brecht Bertolt (1967). Zur Literatur und Kunst. Gesammelte Werke 18. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Brecht Bertolt (1967a). Gedichte 1947-1956. Gesammelte Werke 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 951-1032.
Brie Micha (2018). Revolutionäre Realpolitik I. Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3. S.110-114.
Brunkhorst Hauke (2018). Das revolutionäre Potenzial des Parlamentarismus. In: Beck Ingo & Stützle Ingo (Hg.), Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen. Berlin: Dietz. S.18-37.
Candeias Mario (2018). Revolutionäre Realpolitik II. Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3. S.114-117.
Gotthold Jürgen (1978). Die Funktion der Gemeinden im gesamtstaatlichen Planungsprozess. Politische Vierteljahresschrift 3. S.343-371.
Hall Stuart (2000). Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1. Hamburg: Argument.
Kluge Alexander & Negt Oskar (1981). Geschichte und Eigensinn. Frankfurt/M.: Zweitausendeins.
Lindner Josef F., Möstl Markus & Wolff Heinrich A. (2017). Verfassung des Freistaates Bayern. Kommentar. München: C.H. Beck [2. Auflage].
Marx Karl (1977). Marx an Friedrich Adolph Sorge, 19.9.1879. In: Marx-Engels-Werke 34. Berlin: Dietz. S.410-414.
Marx Karl (1983). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke 1. Berlin: Dietz. S.378-391.
Weber Klaus (2010). Die Zerstörung der Demokratie von innen. Mitlinks. Für ein solidarisches München 33. S.23-25.