Erfahrungsbericht und Appell aus der linksjugend: Wie sich trotz des Kampfs mit der Technik ein wichtiges Agitationsfeld ergibt – das aber dennoch Grenzen hat.
Und auf einmal entdecken alle das Internet für sich. Egal ob aus Mangel an Alternativen oder aus purer Experimentierfreudigkeit: Überall sprießen Podcasts, Vorträge und Lesungen aus dem Boden. So auch bei uns.
Wir haben Ostermontag 2020. Um 19 Uhr referiert ein Genosse darüber, was alles an der Aussage zu kritisieren ist, dass die Nazis Sozialist*innen gewesen seien. Über 50 Interessierte haben eingeschaltet. Wenn wir sonst Räume gebucht haben, angereiste Referent*innen irgendwo untergebracht haben und allerlei technischen Aufwand (vor allem mit verdammten Beamern) hatten, kamen selbst bei gut besuchten Veranstaltungen nicht so viele Zuhörende zusammen.
Also ab jetzt alles online? So einfach ist es dann doch nicht.
Die Krux mit der Technik: Ein wenig Zentralismus hat noch niemandem geschadet
Es gibt einen zentralen Server, welchen die Bundesebene der linksjugend gebucht hat. Untergliederungen können sich auf diesem ohne Kosten einen Konferenzraum erstellen lassen. Die nächste Videokonferenz oder der nächste Vortrag ist dann nur noch einen Klick entfernt. Aller Anfang ist schwer, aber wenn es erstmal läuft, dann läuft es (meistens jedenfalls). Anders ist das, wenn jede Strömung, jede Basisgruppe und jeder Kreisverband versucht, sein eigenes Süppchen zu kochen.
Auch Lesekreise lassen sich online organisieren. Der Lesekreis „Karl Marx für Anfänger*innen“ der linksjugend Bayern ist vollständig ausgebucht: Auf Facebook waren fast 1500 Personen interessiert, über 200 haben sich per Mail angemeldet – und der Frauenanteil liegt, anders als in der Partei üblich, bei etwa 60%. Viele der Teilnehmenden: Ohne Mitgliedschaft in der Partei oder der linksjugend. Ist das diese Agitation der Massen, von der immer gesprochen wird? So oder so empfiehlt sich eine zentrale und einheitliche digitale Infrastruktur und es ist die Aufgabe der höheren Organisationsebenen, diese für alle Untergliederungen bereitzustellen. Passiert das nicht, dann gibt es, ähnlich wie bei der Doppelbelegung von Terminen, Chaos.
Eine neue Normalität finden – auch digital
Es ist Ende April. Der erste große Schwung ist vorbei. Der Enthusiasmus hat sich gelegt – und dennoch sind unsere Veranstaltungen fast durchweg gut besucht. Sind sie also vorbei, die Zeiten der Raumbuchung, der ewigen Pendelei? Jein.
Man spart sich die Wege. Vortrag für die Basisgruppe München halten? Kein Problem! Jemanden aus Berlin einladen? Auch sehr einfach! Das gesamte Bundesgebiet kann nun bei Basisveranstaltungen einschalten und mitdiskutieren. Sonst hört und sieht man sich nur ein paar wenige Male im Jahr – nämlich bei den Verbandsveranstaltungen. Und gerade für Niedersachsen als Flächenland ist der Umschwung auf das Digitale eher durch Möglichkeiten als durch Grenzen bestimmt. Plötzlich ist man in seinem Kaff nicht mehr abgeschnitten. Ebenso plötzlich kann jede*r frei auswählen zwischen all den Themen. Durch Aufzeichnungen ist es auch möglich, einen Grundstock an politischer Bildung für den eigenen Verband aufzubauen.
Andererseits: Ich möchte zwar nicht zwei Stunden fahren müssen, um mir einen Vortrag anzuhören. Diese Stunden fahre ich aber gerne, um meine Genoss*innen zu sehen – sei es auf einem Parteitag oder bei dem Auftakt einer Kampagne. Weiterhin ergibt sich für Referent*innen trotz wegfallender Reisestrapazen das Problem, dass sie durch Online-Formate im Schnitt seltener eingeladen und schlechter bezahlt werden. Als Landespartei könnten wir versuchen, mehr interaktive Veranstaltungen zu organisieren, welche direkt die Basis stärken. Solche Workshops wären auch für Referent*innen öfter durchführbar und würde ihnen den Unterhalt sichern.
Momentan gibt es noch eine erschlagende Hülle und Fülle von Online-Veranstaltungen. Doch das wird sich einpendeln. Wenn die technische Infrastruktur zentral bereitgestellt und die Termine für alle zugänglich gemacht werden, kann dieser Umschwung der politischen Bildung nur dienlich sein: diverser, vernetzender und wirkmächtiger. Nur darf dabei das Analoge nicht vergessen werden. Applaus an diejenigen, die vernünftig organisierte Online-Kongresse auf die Beine stellen – aber als Teilnehmer*in ein Tagesprogramm online durchzuhalten ist der Endgegner in Sachen Selbstdisziplin. Wäre die digitale politische Bildung bei einem Parteitag auf der Tagesordnung, dann wäre sie also ein Ergänzungs- und kein Ersatzantrag.
In diesem Sinne, liebe Genoss*innen: Politische Bildung voran!